FAMILYLIFE
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Wenn ich meine Noise-Canceling-Kopfhörer abnehme und durch die Tür unseres Bürozimmers trete, weiß ich bereits nach etwa zwei Sekunden, welche Interaktionen sich gerade zwischen unseren Kindern abspielen. Stimmlage, Körperhaltung, Mimik und ihre Reaktionen auf mich verknüpfen sich vor meinem inneren Auge zu einem Gesamtbild, das mir sofort zeigt, wer sich von wem ausgeschlossen fühlt, wer vermutlich einen schwierigen Schulvormittag hatte, wer die Eskalation sucht und wer versucht, die Situation zu beruhigen.

Der Mensch verfügt über die bemerkenswerte Fähigkeit, aus kurzen Beobachtungszeiträumen und minimalen Hinweisen umfassende soziale Informationen abzuleiten – ein Phänomen, das in der Psychologie oft als „Thin Slicing“ bezeichnet wird. Studien belegen, dass wir schon innerhalb weniger Sekunden subtile nonverbale Signale wie Mimik, Gestik, Körperhaltung und Stimmlage verarbeiten, um emotionale Zustände, Beziehungen und sogar Konfliktdynamiken zu erkennen.

Diese Fähigkeit spielt auch in Partnerschaften eine entscheidende Rolle. Bei unserem Partner bemerken wir oftmals noch schneller, wenn etwas nicht stimmt. Gleichzeitig ist die Partnerschaft aber auch der Ort, an dem diese Fähigkeit an ihre Grenzen stößt. Denn in einer langjährigen Beziehung interpretieren wir das Verhalten unseres Gegenübers häufig zu negativ.

Sarah kommt nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause und zieht sich in ein ruhiges Zimmer zurück, ohne groß mit ihrem Mann Markus zu sprechen. Markus interpretiert dieses Verhalten als Desinteresse oder sogar als Ablehnung – als Zeichen dafür, dass Sarah verärgert ist oder sich emotional distanziert.

Um seine Frau aufzumuntern, kocht Markus ein besonders aufwendiges Abendessen. Dabei nutzt er zahlreiche Töpfe, spült jedoch während des Kochens keinen einzigen ab. Da er nach dem Essen sofort weiter muss, bleibt der gesamte Abwasch an Sarah hängen. Sie deutet dieses Verhalten als Rücksichtslosigkeit und, noch gravierender, als Missachtung ihrer Bedürfnisse – schließlich hat sie ihm bereits einmal erklärt, wie wichtig ihr Ordnung beim Kochen ist.

Solche und ähnliche Szenen spielen sich in Langzeitbeziehungen immer wieder ab. Häufig sehen wir das Verhalten unseres Partners in einem übermäßig negativen Licht. In unseren Gedanken unterstellen wir ihm böse Absichten und nehmen an, seine Handlungen seien gegen uns gerichtet. Dies bezeichne ich als die Schlechtestmögliche Interpretation (SI).

Im Gegensatz dazu steht eine alternative Sichtweise, die ich die Großzügigste Interpretation (GI) nenne. Wie könnte ich das Verhalten der anderen Person am großzügigsten interpretieren? Wie ließe es sich am gnädigsten deuten? Was, wenn ich ihm oder ihr die besten Absichten unterstelle?

Schweigt sie in einem hitzigen Konflikt, wird dies entweder als passiv-aggressiv oder gleichgültig (SI) interpretiert – oder es ist ein Versuch, ihre Emotionen zu ordnen, um das Problem konstruktiv anzugehen (GI). Schlägt er eine Freizeitaktivität vor, die mehr seinen Vorlieben entspricht als ihren, wird dies entweder als egoistisch (SI) gedeutet oder als Ausdruck des Wunsches, gemeinsam etwas Besonderes zu unternehmen (GI).

Die Großzügigste Interpretation verhindert nicht nur, dass wir in einen Gegenangriff verfallen, wenn uns tatsächlich niemand etwas Böses will; sie führt uns auch oft näher an die tatsächlichen Absichten unseres Partners heran als die Schlechtestmögliche Interpretation.

Next Level für deine Beziehung
Frage dich, ob du eben eine SI oder eine GI gemacht hast, wenn du das nächste Mal ein Verhalten deiner Partnerin oder deines Partners deutest.

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