FAMILYLIFE
Engagieren

Als Eltern wünschen wir uns, dass unsere Kinder eine möglichst sorglose Kindheit erleben. Auch wenn wir wissen, dass es nicht gesund oder förderlich ist, sie vor allem Schweren zu bewahren, hoffen wir gleichzeitig, dass sie wichtige Lebenslektionen möglichst schmerzfrei lernen können. Was aber, wenn eine Person aus unserem direkten Umfeld stirbt und es unausweichlich ist, dass unsere Kinder mit Tod und Trauer konfrontiert werden? 

Während meines Studiums – ich war Anfang 20 und hatte noch keine Kinder – habe ich Literatur zum Thema gewälzt und eine theoretische Abhandlung verfasst. Über 20 Jahre später musste ich von heute auf morgen meinen beiden Töchtern zur Seite stehen, als der Grossvater völlig unerwartet auf einer Reise verstarb. Und kurz darauf ein zweites Mal, als wir nach und nach von meiner demenzkranken Mutter Abschied nehmen mussten. Ohne Literaturstudium – gelernt habe ich aber umso mehr. 

«Was haltet ihr davon, ihren Sarg zu bemalen?»
Die Reaktion meiner 15- und 17-jährigen Töchter auf diese Frage fiel eindeutig positiv aus. Auch die beiden Kinder meiner Schwester signalisierten sofort ihre Zustimmung. Wie auch die meiner Cousine. Das war einerseits keine große Überraschung: Alle sechs malen und zeichnen gerne. Aber den Sarg der Oma zu bemalen war schon etwas ungewöhnlich und potenziell unangenehm. Annette Süß, unsere freie Trauerrednerin und Trauerbegleiterin, die uns als Familie nach dem Tod meiner Mutter begleitete, hatte angeregt, den Deckel des schlichten Holzsargs oder die Urne zu bemalen. Wir entschieden uns für den Sarg, den niemand außer uns und den Mitarbeitenden von Bestattungsunternehmen und Krematorium zu sehen bekommen würde. Nicht das Ergebnis sollte im Vordergrund stehen, sondern das gemeinsame Tun.

Und so fanden wir uns an einem Samstagvormittag im Februar 2025 auf dem Friedhof ein. Wir trugen Kleidung, die Farbspritzer abbekommen durfte. Hatten Snacks dabei, belegte Brötchen, Tee. Zuerst standen wir am offenen Sarg in einem dieser kahlen, gekühlten Räume, in denen Verstorbene aufgebahrt werden. Wir hatten die Kinder einzeln gefragt, ob sie ihre Oma noch einmal sehen wollten. Die Oma noch ein letztes Mal berühren, fühlen, wie kalt sie ist, ihren Tod im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Das hilft zu verstehen, dass der Mensch wirklich nicht mehr da ist. Es flossen viele Tränen. 

Und dann: raus aus der Enge und hinaus ins Freie, an die frische Luft. Dahin, wo alles normal ist. Ein Ortswechsel, den nicht nur die Kinder begrüßten. Jede Familie hatte Farbtuben und Pinsel mitgebracht, die jetzt neben dem Sargdeckel auf dem Boden ausgebreitet waren. Sie waren Einladung genug, es brauchte kein explizites Startsignal. Auch Absprachen waren nicht nötig – es war ja komplett unwichtig, was am Ende dabei rauskommen würde. Überhaupt fielen nicht besonders viele Worte, nur hier und da eine schöne Erinnerung, eine Anekdote. Zwischendurch ein bisschen rumrennen oder ein paar Kekse futtern, warum nicht? Das Malen fühlte sich an wie ein aktives Verarbeiten der Eindrücke, der Momente am offenen Sarg. Ob Erwachsene oder Kinder: Jede und jeder konnte etwas beitragen. Der Sargdeckel wurde mit jedem Pinselstrich bunter, persönlicher. Liebevolle Botschaften, Blumen und mehr. Alle konnten ihr noch einmal etwas mitgeben, Wertschätzung und Trauer zum Ausdruck bringen. Im Malen war jede und jeder für sich und doch nicht allein, sondern mit den anderen verbunden. 

«Wenn bloss kein Schuh ins Grab fällt!»
Im Mai 2022 mussten meine Töchter von ihrem Opa Abschied nehmen. Mein Schwiegervater wurde erdbestattet und seine Beisetzung fand im engsten Familienkreis statt. Seine elf Enkelkinder hatten ein inniges Verhältnis zu ihm und so passte es irgendwie, dass sie sich spontan entlang des offenen Grabes nebeneinander auf den Boden setzten und ihre Füsse in das Loch baumeln liessen. Der Sarg tief unten war bedeckt mit Konfetti. Meine jüngsten Neffen haben irgendwann mal eine Familientradition gestartet: Für jede besondere Gelegenheit stellen sie selbst Konfetti her und lassen die bunten Papierstückchen regnen. So sollte es auch ein letztes Mal für den Opa sein. Ich werde nie vergessen, wie die Enkel da sassen: Schulter an Schulter, vereint in der Trauer, dem Opa noch einmal so nah wie möglich. Als Mutter bzw. Tante hatte ich natürlich im ersten Moment nur einen Gedanken: Sitzen hoffentlich alle Schuhe fest genug? 

Wie geht Trauern mit Kindern oder Teenagern?
Wir mussten uns nach beiden Todesfällen als Familie Gedanken machen: Was machen wir mit den Kindern bzw. Teenagern? Wie gestalten wir die Beisetzung, wie bereiten wir uns darauf vor? Sind alle dabei, auch die Kleinkinder? Anders als damals im Studium habe ich kein einziges Buch zur Hand genommen – dafür hatte ich schlichtweg keinen Kopf. In unserem Familienkreis herrschte erfreulicherweise von Anfang an Einigkeit: Die Kinder abzuschirmen kam nicht in Frage. Wir wollten, dass sie genau wie wir Erwachsenen die Chance bekommen, Abschied zu nehmen. Sie sollten ihre Gefühle, ihre Trauer zum Ausdruck bringen können und ungehindert Zugang haben. 

Bei der Wahrheit bleiben
Ich bin überzeugt: Kinder merken, wenn man flunkert, etwas verschleiert, ausweicht. Nicht selten löst es Ängste aus, wenn Erwachsene etwas verschweigen. «Immer bei der Wahrheit bleiben», lautete der Rat von Annette Süß. Sie betonte, Kinder hätten das Recht zu erfahren, was los ist. Mehrfach kamen an der Beerdigung meiner Mutter ältere Menschen auf mich zu und erzählten mir, wie ihre Eltern das Thema Tod und Sterben damals von ihnen fernhielten. Man sprach nicht über Gefühle, erklärte Kindern wenig bis nichts. «Das kommt noch früh genug», war die landläufige Erklärung für dieses Vorgehen. Man wollte die Kinder bewahren und erreichte oft das Gegenteil. Eine betagte Frau sprach von einer undefinierten, seltsamen Lücke in ihrem Leben, die daraus resultierte, dass sie als Kind bei der Beerdigung eines Familienmitgliedes nicht dabei sein durfte. 

Die Wahrheit sagen heisst für mich nicht, von A bis Z alles schonungslos aufzutischen. Ich kann die Wahrheit sagen, ohne komplett ins Detail zu gehen. Ich habe immer die Wahl, wie viel ich erzähle, kann dosieren. Je nach Alter und Bedürfnis des Kindes ist der Ausschnitt kleiner oder größer. Ich kann schrittweise vorgehen und erst einmal abwarten, wie mein Kind reagiert. Fragt es nach, will es mehr wissen? Hat es Redebedarf oder hat es bereits genug und braucht Zeit, die Information zu verarbeiten? Meine ältere Tochter findet, wir Erwachsenen sollten unbedingt gut darauf achten, wie viel unser Kind gerade verträgt und es nicht überfordern. Vielleicht bringt das Kind das Thema von selbst wieder auf, z. B. bei einem gemeinsamen Spaziergang, abends beim Zubettgehen oder auch aus heiterem Himmel. Bei kleineren Kindern: Verarbeitet das Kind Tod und Sterben im Spiel? Verarbeitet mein Kind gut, wenn es sich bewegt oder kreativ betätigt? Tut es gut, Fotos von früher anzuschauen und wie gross ist das Bedürfnis, das Grab zu besuchen? 

Von den Kindern lernen
Einen meiner Neffen überkam während des Gottesdienstes im engen Familienkreis mit einem Mal eine beachtliche Wut über den Tod seines Großvaters. Immer wieder schlug er mit einem Tuch auf die Stuhllehne vor ihm. Es beeindruckt mich noch heute, wie gut er seine Emotionen nach außen ableiten und sich Erleichterung verschaffen konnte. Als Erwachsene können wir von Kindern lernen, Gefühle zuzulassen und ungeniert zu zeigen. Kindern fällt es oft leichter, ihren Gefühlen Luft zu machen, sie haben aber auch in der Regel schneller genug. Oder wie es eine meiner Töchter ausdrücken würde: «Kinder sind nicht dafür gemacht, nur zu trauern.» Sie können im einen Moment schluchzen und sich gleich danach schütteln vor Lachen. Auch das können wir uns abschauen: beides darf sein, sogar nach einem Todesfall. Meine Tochter würde sagen: «Es muss erlaubt sein, (wieder) zu lachen». Auch ihrer jüngeren Schwester war wichtig, dass nicht immer alles nur traurig und schwer ist. Sie findet es gut, gemeinsame Erinnerungen an die verstorbene Person Revue passieren zu lassen und sich über das gemeinsam Erlebte zu freuen. Ich verstehe: Es braucht immer wieder auch unbeschwerte Momente, welche die Situation entspannen. Zum Schluss noch ein letztes Zitat und ein Punkt, der vielleicht auch zu einer gewissen Entspannung beitragen kann: «Wir brauchen keine weisen Sprüche oder Lösungen à la ‘jetzt geht es ihr/im gut’. Beileid auszudrücken reicht vollkommen. Manchmal ist auch ein Blickkontakt genug oder ein Lächeln, das von Herzen kommt.»

Wo seid ihr als Familie Tod und Trauer begegnet oder habt es selbst erlebt?
Wie seid ihr damit umgegangen? Was ist euch dabei wichtig geworden?
Was nimmst du für den Umgang mit Tod und Trauer aus dem Blogbeitrag mit?

Ähnliche Artikel