„Früher war unser Sex ein Feuerwerk. Wir begehrten einander und fielen oft spontan übereinander her“, sagt Melanie. „Heute ist das anders. Ich habe kaum noch einfach so Lust auf Sex. Wenn wir dann doch Sex haben, ist es schön und ich habe kein Problem damit. Aber ich vermisse es, wirklich Lust auf Sex zu haben. Ich finde es schlimm, mich überwinden zu müssen, mit meinem Mann zu schlafen. Das gibt mir das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt.“
Melanie spricht für viele Frauen und Männer in Langzeitbeziehungen. Sie merkt, dass ihre Paarsexualität auf wackligen Beinen steht, wenn sie sich weiterhin allein auf ihr spontanes Begehren verlässt, das nur noch selten auftritt. Sie fühlt sich unzulänglich, was ihre Lust nur noch mehr hemmt.
Wenn wir an sexuelle Lust denken, stellen wir uns meist das spontane Begehren vor – das, was Melanie zu Beginn ihrer Partnerschaft erlebte, als sie etwas Erregendes sah oder dachte und sofort Lust auf Sex hatte. Neben dem spontanen Begehren gibt es aber auch das reaktive Begehren. Dieses entsteht nicht in Erwartung auf Sex, sondern als Reaktion auf Nähe, Intimität oder Berührung.
In Filmen, Büchern und Pornografie wird fast ausschließlich spontanes Begehren dargestellt. Deshalb glauben viele, mit ihnen stimme etwas nicht, wenn sie nicht regelmäßig spontan Lust auf Sex empfinden. Dabei ist reaktives Begehren genauso normal wie spontanes. Gerade in langjährigen Partnerschaften ist es oft die verlässlichere Grundlage und führt zu einer höheren sexuellen Zufriedenheit.
Die meisten Paare müssen sich auf eine Reise begeben, wenn sie ihre Sexualität langfristig erfüllend gestalten wollen. Weg von einer lustgetriebenen Befriedigung, bei der Orgasmus und Spannungsabbau im Zentrum stehen, und hin zu einer sexuellen Begegnung, die auf Verbindung und Genuss ausgerichtet ist.
Oft müssen sie dafür zunächst ihre nostalgischen Gefühle überwinden („Ich wünschte, es wäre wie früher und wir würden wieder diese ungestüme Leidenschaft spüren“). Solche Gefühle sind verständlich, aber nicht hilfreich. Wir verändern uns, unsere Lebensumstände verändern sich und unsere Sexualität darf sich mitverändern. Wir müssen nicht den gleichen Sex haben wie vor zehn Jahren. Sinnvoller ist es, herauszufinden, was wir beim Sex suchen und was uns schon damals Genuss bereitet hat, um das in eine neue, für uns heute passende Form zu bringen.
Der Maßstab für ein erfüllendes Sexleben ist das Erleben von Genuss und tiefer Verbindung, nicht die Häufigkeit spontaner Leidenschaftsausbrüche. Die Veränderung des sexuellen Drehbuchs ist oft ein längerer Prozess. Manche Paare gehen diesen Prozess bewusst an, indem sie frühzeitig Elemente der sexuellen Genussbegegnung einbauen, etwa lustvolle Berührungen ohne Orgasmusziel oder bewusst geplante intime Zeiten. Viele andere werden hingegen unfreiwillig in diesen Prozess hineinkatapultiert, weil sie mit ihrem auf lustgetriebener Befriedigung basierenden Drehbuch in eine Sackgasse geraten und zunehmend unzufrieden mit ihrer Paarsexualität werden, so wie Melanie.
Es lohnt sich für jedes Paar, sein sexuelles Repertoire zu erweitern. Zwar können sie weiterhin von prickelnder Lust überrascht werden, doch wenn sie das reaktive Begehren bewusst in ihr Liebesleben einbeziehen, erhält die Paarsexualität ein zweites Standbein. Das neue sexuelle Drehbuch kann genauso erfüllend und oft sogar intensiver sein wie das alte. Für Melanie und viele andere Menschen in ähnlichen Situationen bedeutet das, dass ihre erfüllendsten sexuellen Erfahrungen noch vor ihnen liegen. Die Sexualität kann sich im Laufe der Partnerschaft weiter entfalten und vertiefen – nicht durch eine Rückkehr zum alten Muster, sondern durch die bewusste Erweiterung des sexuellen Repertoires um reaktives Begehren und eine genussvolle, tiefe Verbindung.