Laut schnaufend rennt George den Hügel hoch. Seine Beine brennen und er fragt sich, weshalb er sich das eigentlich antut. Während er sich quälend langsam der Anhöhe nähert, kann er nur noch an die Schmerzen denken. Doch als er endlich oben ankommt, ist es, als würde er unter Gedächtnisverlust leiden. Innerhalb weniger Sekunden sind alle Schmerzen vergessen und er läuft mit einem Lächeln auf den Lippen weiter, als hätte es nie einen anstrengenden Aufstieg gegeben. Als er wenige Tage später seine Laufschuhe erneut schnürt und sich auf seine Hausstrecke macht, durchläuft er wieder genau die gleichen Emotionen.

Es scheint George, als wären seine beiden emotionalen Zustände zwei in sich abgeschlossene Welten: Der keuchende, leidende Läufer und der sorglose Mensch, der bergab läuft, verstehen einander kaum. Sie können sich nur schwer vorstellen, wie sich der andere fühlt und dass sie innerhalb von Sekunden vom einen zum andern werden können.

Bergläufer-George heißt mit vollem Namen George Loewenstein und ist ein bekannter Wirtschaftswissenschaftler. Er vermutete, dass es nicht nur bei seinen Lauftrainings zwei voneinander abgetrennte emotionale Welten gibt, sondern dass dieses Phänomen auch in anderen Lebensbereichen vorkommt.

Loewenstein wurde tatsächlich fündig. Unsere fehlende Fähigkeit, uns vorzustellen, wie wir in anderen emotionalen Zuständen fühlen und handeln, nannte er „Empathy Gap“. Wenn jemand beispielsweise gerade keinen Hunger hat, ist es für diese Person fast unmöglich einzuschätzen, wie es ist, wenn sie später Hunger hat. Das ist der Grund, weshalb das Vorhaben, „morgen auf das Abendessen zu verzichten“, nur selten gelingt und weshalb Diäten so schwierig sind.

Diese Empathielücke gibt es nicht nur zwischen dem leidenden und dem fröhlichen Läufer, der satten und der hungrigen Person, sondern auch in der Paarsexualität. Wenn wir nicht gerade erregt sind, vergessen wir ständig, wie schön Sex eigentlich ist. Loewenstein hielt fest, dass diese Empathielücke dazu beiträgt, „zu erklären, warum Paare es verpassen, Sex zu initiieren, obwohl sie aus Erfahrung wissen, dass es schön ist, wenn sie es tun … Faustregeln wie ‘wir haben jeden Abend Sex, ungeachtet unseres unmittelbaren Verlangens’ können einen besseren Verhaltensleitfaden sein als momentane Gefühle.“

Jeden Abend Sex zu haben ist wohl für die meisten Paare keine passende Faustregel. Trotzdem ist Loewensteins Erkenntnis besonders für langjährige Partnerschaften wertvoll. Unser spontanes Verlangen nimmt mit der Zeit ab und weil wir viel um die Ohren haben und müde sind, initiieren wir immer seltener Sex. Und das, obwohl wir eigentlich wüssten, wie verbindend und wohltuend es ist. Doch eine Empathielücke sorgt dafür, dass wir das immer wieder vergessen. Und nach dem nächsten Sex fragen wir uns dann wieder verwundert, weshalb wir das eigentlich nicht öfter tun. Vielleicht würde eine Faustregel ja trotzdem helfen.

 

NEXT LEVEL FÃœR MEINE BEZIEHUNG:
Welche Faustregel würde euch helfen, eure Empathielücke in der Paarsexualität zu überbrücken?

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