In meiner Familie gibt es zwei Arten, wie man auf Ungerechtigkeiten reagiert. Während die einen nahe am Wasser gebaut sind, werden die anderen wütend. Ich werde wütend. Und wenn ich wütend werde, erwacht mein inneres Nashorn. Normalerweise schlummert dieses eher unauffällig vor sich hin.

Diesen Sommer jedoch widerfuhr einer meiner Töchter eine groβe Ungerechtigkeit mit weitreichenden Konsequenzen für sie. Und mein inneres fast vergessenes Nashorn erwachte zu neuem Leben. Ich staunte, wie groβ meine Wut war. Und wie vereinnahmend. Aber ich wusste: Den Kopf wollte ich in dieser Situation nicht verlieren. Damit würde ich weder meinem Kind helfen noch würde das die Situation lösen. Und ich würde mir anschlieβend tagelang Selbstvorwürfe machen.

Auch wenn es sich nicht gut anfühlt, wütend zu sein, ist Wut an sich nichts Schlechtes, sondern eine normale Empfindung, die Gott in uns hineingelegt hat.

Wut tut gut, las ich gestern im Wartezimmer meines Hausarztes auf einem Buchrücken. Häh? Ich finde, Wut fühlt sich nicht gut an. Aber der Titel weist in die richtige Richtung: Auch wenn es sich nicht gut anfühlt, wütend zu sein, ist Wut an sich nichts Schlechtes, sondern eine normale Empfindung, die Gott in uns hineingelegt hat. Sie ist die instinktive Reaktion auf ein Ereignis, das uns irritiert, erschreckt, frustriert oder verletzt. Es ist also unser gutes Recht, zornig zu sein, wenn einem Kind Unrecht geschieht (…). Sobald wir Wut empfinden, schüttet unser Körper vermehrt Adrenalin aus, wodurch wir angespornt werden, gezielt zu handeln.*

Es ist also wichtig, die eigene Wut zu erkennen und zu akzeptieren. Dann allerdings können und müssen wir uns entscheiden, ob wir damit konstruktiv oder destruktiv umgehen. Und das kann ein enormer Kraftakt sein! Im Fall unserer Tochter habe ich es tatsächlich geschafft, gegen auβen klar und konstruktiv zu reagieren. Unsere Tochter hat sich dadurch unterstützt gefühlt und ich konnte mir im Spiegel noch in die Augen sehen.

In mir drin sah es jedoch völlig anders aus. Das Nashorn in mir hatte Wutausbrüche vom Feinsten. Ich hatte ganz vergessen, dass ich so wütend werden konnte. Tagsüber lenkte ich mich mit Aktivitäten ab und war so meinen Gefühlen nicht ganz ausgeliefert. Ganz anders sah es in der Nacht aus. Während Mann und Kinder schliefen, erwachte ich wiederholt und verspürte unglaubliche Wut.

Vergebung ist das entschlossene und bewusste Bemühen, etwas loszulassen, so dass es uns nicht mehr beherrscht.

Irgendwann im Verlauf der Nacht begann ich, meine Wut an Gott zu adressieren. Ich wollte mich nicht vom Gefühl und damit vom Wutverursacher beherrschen lassen. Aber ich konnte auch nicht so schnell darüber hinweggehen. Manche Dinge sind schwer zu verzeihen. Es hilft, vor Gott völlig ehrlich seine Gefühle auszubreiten. Es ist ein erster Verarbeitungsschritt. Dann kommt Vergebung ins Spiel. Vergebung ist kein Gefühl, obwohl sie unsere Gefühle nachhaltig verändert. Vergebung ist das entschlossene und bewusste Bemühen, etwas loszulassen, so dass es uns nicht mehr beherrscht. Es bedeutet lediglich, das erfahrene Unrecht Gott anzuvertrauen und dem anderen die Barmherzigkeit zu erweisen, die Gott uns erwiesen hat.*

Wenn Eltern nicht vergeben, schaden sie sich selbst und es wirkt sich auf die Kinder aus. Diese haben erstens einen feinen Sensor für Stimmungen und leiden darunter. Zweitens übernehmen sie unbewusst unsere Verhaltensmuster. Es ist also von groβer Bedeutung, wie Eltern mit der eigenen Wut umgehen. Kinder dürfen lernen, dass auch Eltern wütend werden und sie sollen an unserem Beispiel beobachten können, wie man angemessen mit Wut umgeht.

Wie gehst du mit deiner eigenen Wut um? Nimm einen Vorfall aus der jüngeren Vergangenheit und überlege dir, wo du angemessen reagiert hast und was du eventuell beim nächsten Mal anders machten möchtest.

Vergebung ist nicht einfach. Welche Erfahrungen machst du damit?

Lesenswert ist in diesem Zusammenhang das Kapitel über Wut im Buch «Eltern auf Kurs» von Nicky und Sila Lee. Einzelne Sätze im Text sind diesem Buch entnommen.

Alexandra Kämpf ist verheiratet mit Richard. Zusammen haben sie drei  Töchter im Alter von 8 bis 18 Jahren. 

Sie arbeitet bei FAMILYLIFE und verantwortet dort die Ehe- und Elternkurse.