Nebst allem, was mir gut gelingt im Familienleben und der Tatsache, dass ich meine Kinder über alles liebe, passieren mir als Mutter immer wieder Dinge, die mein Bild von mir als gute Mutter in Mitleidenschaft ziehen und auf die ich gar nicht stolz bin. Da sind zum Beispiel meine “Allergie-Momente”. Auf was ich allergisch bin? 

Ganz einfach: Auf eines meiner Kinder oder besser gesagt auf alles, was dieses eine Kind dann grad so tut oder sagt. Manchmal reicht sogar ein Gedanke an dieses Kind aus, um meinen Ärger neu zu entfachen. Oder ein Augenverdrehen oder Seufzer vom Kind in meine Richtung. Das Kind kann in solchen Momenten gar nichts mehr richtig machen. Meine elterliche Wahrnehmung ist gestört. Ich bin festgefahren. Welche Wege gibt es, um da wieder rauszukommen? Wie werde ich meinen Tunnelblick los, so dass ich beim Kind hinter die Fassade und über die mühsamen Dinge hinwegschauen kann? Was, wenn der altbekannte Ratschlag, sich für einen Moment aus der Situation rauszunehmen und den Zustand seiner Seele unter die Lupe zu nehmen, nicht zum Ziel führt?

Ich habe für mich eine überraschend einfache Antwort, quasi eine Lebensregel gefunden: Du sollst dir kein Bild machen – nicht von Gott (sagt uns die Bibel), nicht von anderen Menschen und nicht von deinem Kind. Das geht zuerst einmal völlig gegen die menschliche Natur. Sie mag es nämlich, Dinge und Menschen mit Attributen zu versehen und zu kategorisieren. Das scheint das Leben zu vereinfachen. Also teilt sie ein: In gut oder böse, in hilfsbereit oder egoistisch, in wählerisch oder einfach zufriedenzustellen – klick, klick, klick. Ein Bild nach dem anderen entsteht. Auch jedes Mal, wenn ich meine, mein Kind zu kennen, entsteht in meinem Kopf ein weiteres Bild von ihm. 

  • Das Kind weigert sich wieder einmal, das Gemüse auf dem Teller zu essen – klick.
  • Das Kind verlässt das Haus immer auf den letzten Drücker und mit viel Drama – klick.
  • Das Kind ist immer bereit, mit dem jüngeren Geschwisterkind zu spielen – klick.
  • Das Kind gibt in der Regel bei einem Streit nach – klick.

Mit der Zeit habe ich eine Bildersammlung, ein imaginäres Fotoalbum, die verhindert, dass ich das Kind wirklich sehe. Unabhängig davon, ob diese Bildersammlung mehrheitlich positiv oder negativ ist, engt sie mein Kind ein, weil meine Erwartungen an das Kind von ihr geprägt werden. Mein Bild vom Kind ist starr und auf ein paar Attribute reduziert. Damit tue ich ihm unrecht. Denn ein Kind darf und muss sich verändern. 

Sich kein Bild zu machen, bedeutet konkret, dass es keine Rolle spielt, wie gut ich mein Kind kenne oder zu kennen meine. Ich kenne es nämlich nicht gut genug.

Wenn ich mich aber von Neugier leiten lasse, gebe ich meinem Kind die Möglichkeit, sich von meinen Erwartungen und Vorstellungen zu befreien. So hat es die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und zu wachsen. Sich kein Bild zu machen, bedeutet konkret, dass es keine Rolle spielt, wie gut ich mein Kind kenne oder zu kennen meine. Ich kenne es nämlich nicht gut genug. Ich werde es nie ganz und gar kennen. Die entscheidenden Fragen sind also: Wie würde ich mein Kind behandeln, wenn ich ihm heute zum ersten Mal begegnen würde? Wie neugierig wäre ich? Wie offen wäre ich, damit das Kind nicht einer Annahme oder Fantasie entspricht? Ich bin auf einer Entdeckungsreise, die mit der Geburt des Kindes beginnt und mit meinem letzten Atemzug endet.  

Wo hast du ein fixes Bild von deinem Kind? Wie hindert es dein Kind in seiner Entwicklung? Wo engst du dein Kind mit deinen Erwartungen und Vorstellungen ein?

Alexandra Kämpf ist verheiratet mit Richard. Zusammen haben sie drei  Töchter im Alter von 10, 17 und 20 Jahren.

Sie arbeitet bei FAMILYLIFE und verantwortet dort die Ehe- und Elternkurse.