“Momo, lass loooos!!!” Energisch fordert meine vierjährige Enkelin, dass ich die gespannte Schnur nun endlich aus der Hand gleiten lasse, damit das Spiel weitergehen kann. Ihrem Gesichtsausdruck nach hat sie es schon ein paar Mal gerufen, aber ich habe es erst jetzt begriffen – was ich als Grossmami getrost auf meinen Tinnitus schieben könnte. Aber in Wahrheit zeigt sich in diesem Satz etwas ganz anderes…

Als meine Schwiegertochter und mein Sohn uns vor ein paar Monaten erzählten, dass sie die kleine Maus nun in den Kindergarten angemeldet hätten, weckte das plötzlich ungeahnte Emotionen: Was? Das kleine Persönchen sollte zweimal pro Weg eine Straße samt Bahnübergang überqueren? Den Erziehungsprinzipien fremder Menschen ausgeliefert werden?? Von größeren Kindern über den Haufen gerannt werden, verschiedenste andere Sitten kennenlernen und sich behaupten lernen müssen??? Klar, dass sie das einmal lernen muss – aber muss das jetzt schon sein? Ich würde sie so gern vor allem Leid bewahren – davor, von anderen zurückgewiesen, belächelt oder gar ausgelacht zu werden; zu erleben, dass andere auf einen Kindergeburtstag eingeladen werden und sie nicht. Und davor, Angst vor der Grobheit eines Größeren zu haben; ich möchte sie vor jedem einzelnen Menschen beschützen, der es nicht gut mit ihr meint und ihre schöne Seele verletzen könnte. Und doch weiss ich, dass Leben auch das ist. Ich muss loslassen.

Vielleicht ist dies eine der ganz großen Herausforderungen des Menschseins: Loslassen, was man liebt; freigeben, was sich ent-falten will; die Balance finden zwischen liebevoller Begleitung, die schützend zurückhält und sich gleichzeitig in einer Vorwärtsbewegung befindet.

Vielleicht ist dies eine der ganz großen Herausforderungen des Menschseins: Loslassen, was man liebt; freigeben, was sich ent-falten will; die Balance finden zwischen liebevoller Begleitung, die schützend zurückhält und sich gleichzeitig in einer Vorwärtsbewegung befindet. Die immer mehr von der Schnur freigibt, mit der sie eigentlich gehalten hat. Schon das Durchtrennen der Nabelschnur ist ein erstes Loslassen, und so geht es weiter und weiter, bis unser Kind die Flügel ausbreitet und über den Rand unseres Nestes in sein eigenes Leben gleitet. Je mehr wir ihm zutrauen und es auf seinem Weg unterstützen, desto besser kann dieser Schritt gelingen. Aber ich fand und finde das schwer. Loslassen – und wenn es schief geht? Wenn unser Kind sich verletzt? Oder einen Weg wählt, der mich verletzt? Denn auch das kann passieren. Unsere Kinder schulden uns nichts. Sie sind nicht auf dieser Welt, um uns glücklich zu machen. 

Was mir beim Loslassen am Allermeisten hilft, ist mein tiefes Vertrauen in Gott. In den Jahren der Erziehung unserer Söhne hatte ich drei Mal das konkrete Gefühl, dass Gott will, dass ich ihm unsere Kinder ganz gebe. Die ersten beiden Male hat mich das mit voller Wucht getroffen. Ich war plötzlich mit völlig irrationalen Ängsten konfrontiert. Was, wenn Gott mir meine Kinder nimmt? Was, wenn ihnen dann etwas Schlimmes passiert? In diesen Gedanken erkannte ich eine merkwürdige Vorstellung von Gott – von einem Gott, der Furchtbares tut, wenn man es ihm erlaubt. Aber ein solcher Gott würde wohl gar nicht erst um Erlaubnis fragen, sondern einfach machen! Gott ist nicht so. Was man loslässt, fängt er auf. Was man freigibt, bewahrt er wie einen kostbaren Schatz. Gott ist vertrauenswürdig. Und interessanterweise haben sich alle drei Male nach diesem mütterlichen Loslassen große Entwicklungsschübe im Leben unserer Jungs ereignet.

An all das erinnere ich mich jetzt. “Momo, lass los!” ist Gottes freundliche Erinnerung an mich: Auch dieses herrliche kleine Geschöpf steht unter seinem Schutz. Mit all meiner Liebe kann ich nicht verhindern, dass meine Enkelin auch Leid erleben wird. Mein Vertrauen in Gott wird zu einem Vertrauen in sie – sie kann das verkraften! Wie eine junge Pflanze, die Wind und Regen ausgesetzt ist, um stark zu werden. Und ich werde, so gut es geht, meinen Schirm über sie halten, ihr zuhören und für sie da sein. Mit Gott über sie sprechen und ihn bitten, sie zu schützen. Und Gott, der keinen Tinnitus hat, wird hören.

Bei welchen Dingen im Leben mit deinem Kind / deinen Kindern fällt es dir besonders schwer, loszulassen?
Was befürchtest du? Hast du in diesen Punkten selbst negative Erlebnisse gemacht, die immer noch weh tun?
Was konkret könnte der Gewinn sein, wenn du loslässt?

Anette Götz ist verheiratet mit Roger. Zusammen haben sie zwei erwachsene Söhne.

Sie arbeitet bei FAMILYLIFE im Bereich familylife GROW (Eheseminare), Referate und Ehe-Kurse.