„Mega schwierig! Ich weiß es echt nicht.“ Das war die Antwort meines Kollegen auf die Frage: Welches deiner Bedürfnisse ist für dich so wichtig, dass du es auch im Familienalltag mit deinen Kindern ernst nimmst und durchsetzt? Auch wenn du damit deinen Kindern Grenzen setzt?

Irgendwann kam dann die Antwort: «Ich glaube ich setze meine Bedürfnisse immer dann durch, wenn ich überzeugt bin, dass schlussendlich auch die Kinder davon profitieren. Ein Beispiel ist die Mittagszeit. Dann schlafen die beiden Jüngeren. Der Älteste muss sich dann einfach selbst beschäftigen. Ich brauche die Pause, weil ich sonst am Nachmittag unerträglich bin.“

Auf die Bedürfnisse von Kindern und den Zusammenhang mit „Grenzen setzen“ haben wir vor den Sommerferien einen Blick geworfen (hier nachzulesen). Heute sind die Eltern und ihre Bedürfnisse das Thema.

Bleibt also die Frage, wann und in welchem Ausmaß Eltern ihre Bedürfnisse ins Familienleben integrieren dürfen oder sollen.

Eine Familie ist ein System. System bedeutet wörtlich «ein aus Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes». Die einzelnen Teile stehen in einer bestimmten Beziehung zueinander. Ändert man an einer Stelle im System etwas, hat das Auswirkungen auf das ganze System. Und je mehr Einzelteile im System sind, desto komplizierter wird es. Wenn ich ein Mittagessen koche, das die Kinder lieben, ist die Stimmung am Tisch mit großer Wahrscheinlichkeit gut. Wenn ein Vater hingegen die Mittagszeit durchsetzt, begrenzt er damit die Freiheit seiner Kinder und riskiert Widerstand. Eltern, die ihre Bedürfnisse ernstnehmen, drehen an einem Rädchen im Familiensystem. Bleibt also die Frage, wann und in welchem Ausmaß Eltern ihre Bedürfnisse ins Familienleben integrieren dürfen oder sollen. Dazu vier Gedanken.

Erstens: Wer sich für Kinder entscheidet, wählt damit ein Lebensmodell, in dem er sich selbst zurücknehmen und der Entwicklung und dem Wohl des Kindes Priorität geben sollte. Eltern investieren einen bedeutenden Teil ihres Lebens in andere Menschen. Das ist normal und gut so.

Zweitens: In den ersten Lebensjahren eines Kindes sollten Eltern ihre Bedürfnisse stark zurückstellen. Jene des Kindes stehen im Vordergrund. Die Bedürfnisse von Babys und Kleinkindern müssen erkannt und zeitnah erfüllt werden. Kleine Kinder können nicht warten. Nur so kann eine sichere Bindung entstehen. Und das Wohlbefinden und die (spätere) Kooperationsbereitschaft eines Kindes hängen davon ab.

Drittens: Mit zunehmendem Alter der Kinder ist es wichtig, dass Eltern die Verantwortung für ihr eigenes Wohlbefinden (wieder vermehrt) wahrnehmen und ihre eigenen Bedürfnisse zunehmend ins Familienleben integrieren. Nur Eltern, die gut für sich selbst sorgen, können auch langfristig gut für ihre Kinder sorgen. Kinder können nämlich mit der Zeit ihre eigenen Bedürfnisse für kurze Zeit zurückstellen. Eine einseitige Fokussierung auf die Bedürfnisse der Kinder ist sogar schädlich: Einerseits, weil ihnen vorenthalten wird, sich als Teil einer Gemeinschaft zu verstehen. Und andererseits verpassen sie es, ein Bewusstsein für die Bedürfnisse anderer zu entwickeln und sich selbst einmal zurückzunehmen. Elterliche Aufopferung vermittelt dem Kind, dass andere dafür da sind, einem alles abzunehmen. Es entwickelt keine Frustrationstoleranz. Denn mein Bedürfnis kann das Kind durchaus frustrieren. Das macht nichts, solange wir seinen Frust nicht herunterspielen oder zu unterbinden versuchen. Wichtig ist, Verständnis zu zeigen und es trotzdem kurz warten zu lassen. Zum Beispiel bis die Mail geschrieben, die Spülmaschine ausgeräumt oder das Geschwisterkind gewickelt ist.

An unserem Modell lernen unsere Kinder auch, wie sie zu sich selbst Sorge tragen können.

Viertens sind wir als Eltern gewollt oder ungewollt immer und überall Vorbild. Wir dürfen oder sollen also unsere Gedanken und Bedürfnisse klar äußern und dafür sorgen, dass es uns gut geht und wir zufrieden sind. Damit zeigen wir den Kindern im Alltag immer wieder, wie man mit eigenen Bedürfnissen umgehen kann und wie Selbstfürsorge und Eigenverantwortung aussehen. An unserem Modell lernen unsere Kinder auch, wie sie zu sich selbst Sorge tragen können.

Für viele Eltern fühlt es sich komisch an, zu merken, dass ihre Energie nicht für alles reicht und sie dem Bild der Super-Mama oder des Super-Papas („Es ist alles eine Frage der Organisation“) nicht entsprechen. Dabei ist das völlig normal – wir haben begrenzte Ressourcen und begrenzte Fähigkeiten, und unsere Aufgabe ist nicht die völlige Selbstaufgabe und Aufopferung.

Den Kindern wegen eigener Bedürfnisse Grenzen zu setzen, ist erlaubt. Sicher dann, wenn diese am Ende davon profitieren – aber auch dann, wenn das vielleicht nicht unmittelbar oder gar nicht der Fall ist („Nein, Mama ist heute zu müde für den Spielplatz“).

Was für Bedürfnisse nehme ich überhaupt (noch) wahr? Welches ist das Wichtigste?
Habe ich ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, es „einzufordern“? Wenn ja: Warum?
Möchte ich stärker für mein Bedürfnis/meine Bedürfnisse einstehen? Wenn ja: Welche Schritte muss ich dafür machen (z.B. meiner Familie erklären: Ich möchte zukünftig nach dem Mittagessen 30 Minuten nur für mich haben. Ich bin sonst am Abend zu erschöpft.)

Alexandra Kämpf ist verheiratet mit Richard. Zusammen haben sie drei  Töchter im Alter von 9 bis 19 Jahren.

Sie arbeitet bei FAMILYLIFE und verantwortet dort die Ehe- und Elternkurse.