Der Tag, an dem seine Frau gestorben war, bedeutete gleichzeitig auch das Ende seines eigenständigen Lebens. Ohne seine Frau konnte er nichts mehr tun. Über Jahre war sie für alle sozialen Kontakte verantwortlich. Sie kam mit den technischen Geräten zurecht, führte den Haushalt und kümmerte sich um die Finanzen. Er hingegen konnte sich weder einen Teller Spaghetti kochen noch eine Telefonnummer ausfindig machen. Schnell war klar, dass er nun seinen Alltag nicht mehr allein bestreiten konnte und ins Pflegeheim musste, obwohl er körperlich noch fit war.

Die Ehe dieser zwei Personen war durch eine starke Funktionsübertragung geprägt. Er hat immer mehr Funktionen auf seine Frau übertragen. Sie nahm dies gerne an und wurde dadurch immer fähiger und konnte immer mehr, während gleichzeitig sein Funktionsniveau sank und er immer weniger auf die Reihe brachte. Erstaunlicherweise fühlten sich beide in diesen Rollen einigermaßen wohl. Er, weil er keine Verantwortung übernehmen musste und seine hilfsbereite Frau ihn gut unterstützte. Sie, weil sie der Star im Haus war und ihm stets helfen konnte.

Das klingt jetzt alles recht negativ, doch man muss auch festhalten, dass ihre Partnerschaft durch diese fest zugeteilten Rollen stabilisiert wurde. Beide brauchten den anderen. Weil er nicht ohne ihre Hilfe leben konnte und sie nicht auf den Selbstwertgewinn, den ihr das Helfen gab, verzichten konnte, war klar, dass ihre Ehe halten wird.

In vielen Partnerschaften kommt es zu einer Funktionsübertragung. Nur selten ist sie jedoch so offensichtlich wie eben beschrieben. Doch auch in ihren subtileren Formen verhindert diese stabilisierende Beziehungskrücke, dass beide Partner ihr volles Potenzial entfalten können.

Wenn immer ein Paar dazu neigt, dass jemand seine Funktionsfähigkeit auf Kosten des anderen ausbaut (und dazu neigen die meisten Paare), ist Vorsicht geboten. Die „helfende Alleskönnerin“ darf sich dann bewusst vornehmen, weniger Aufgaben zu übernehmen, der „hilfsbedürftige Nichtskönner“ darf seine Verantwortungsbereiche verteidigen oder sogar ausbauen und mehr Verantwortung übernehmen.

Das kann herausfordernd sein. Wenn beispielsweise Kathrin einen kostspieligen Fehlkauf tätigt, ist Christoph versucht zu helfen und den Fehler seiner Frau auszubügeln. Und gleichzeitig wird er durch abwertende Bemerkungen sicherstellen, dass von nun an wichtige Kaufentscheide immer über ihn laufen. Das nicht zu tun, braucht eine gute Portion Gelassenheit und vor allem ein Bewusstsein für diese Funktionsübertragungs-Falle.

Das Gegenprogramm zur Funktionsübertragung heißt wechselseitige Unterstützung. Hier unterstützen sich beide Partner abwechslungsweise und gegenseitig, ohne dass sie sich voneinander abhängig machen und ohne dass es zu einem Gefälle in der Beziehung kommt. Wechselseitige Unterstützung ist zwar anspruchsvoller als eine Beziehung mit Funktionsübertragung, doch der dadurch gewonnene Raum zur Entfaltung beider Partner ist es wert.

 

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