Als ich kürzlich eine Online-Zeitung las, ploppte plötzlich ein Fenster mit der Frage auf, ob ich ein überdurchschnittlich guter Verkehrsteilnehmer sei. Ich konnte nur „Ja“ oder „Nein“ anklicken. Selbstverständlich wählte ich „Ja“. Dann folgte sofort das Ergebnis der Umfrage. Ich erinnere mich zwar nicht mehr an den Inhalt des Artikels, den ich eigentlich lesen wollte, aber ich weiß noch genau, dass über 70 Prozent der Lesenden ihre Fähigkeiten im Straßenverkehr als überdurchschnittlich gut eingeschätzt haben.

Wie würde wohl das Ergebnis ausfallen, wenn man nach der eigenen Liebesfähigkeit fragen würde? Ich vermute, dass auch hier rund drei Viertel der Menschen ihre Liebesfähigkeit als überdurchschnittlich bezeichnen würden.

Solange wir zu unseren Mitmenschen eine gewisse Distanz wahren, ist alles in Ordnung. Probleme gibt es erst, wenn wir mit jemandem in einer engen, verbindlichen Beziehung leben. Erst dann entsteht eine gewisse Reibung. Das legt natürlich den Schluss nahe, dass es am anderen liegen muss. Vielleicht ist dieser Trugschluss einer der Gründe, warum viele Menschen ihre Liebes- und Beziehungsfähigkeit überschätzen.

Ist dir auch schon einmal aufgefallen, wie viel schwieriger es ist, die eigene Partnerin freundlich zu behandeln als jemanden, der uns nicht so nahesteht, wie zum Beispiel den Busfahrer oder die Zahnärztin?

Und umgekehrt fällt es uns viel leichter, für die Opfer einer Umweltkatastrophe in Afrika zu spenden, als zu Hause liebevoll mit unseren Nächsten umzugehen. Ebenso ist es leichter, den Menschen in Nordkorea alles Gute zu wünschen, als aus seiner Ich-Bezogenheit auszubrechen und seinem Gegenüber wirklich zuzuhören, ohne innerlich schon eine Antwort vorzubereiten. Deshalb ist es wohl kein Zufall, dass Jesus uns zur Nächstenliebe und nicht zur Fernstenliebe aufruft.

An Liebes- und Beziehungsfähigkeit zu gewinnen, halte ich für ein erstrebenswertes Ziel für alle Menschen. Dieser Prozess beginnt mit der Einsicht, dass wir vielleicht doch nicht so liebesfähig sind, wie wir immer dachten. Diese Einsicht macht uns frei, weil wir uns nichts mehr vormachen müssen, sondern ehrlich zu unseren Begrenzungen stehen können.

Die Ehe ist ein ideales Übungsfeld für die Liebe. Hier stoßen wir immer wieder an die Grenzen unserer Liebesfähigkeit. Und gleichzeitig bietet sie einen stabilen Rahmen, weil sie nicht gleich zerbricht, wenn sich wieder einmal herausstellt, dass meine Nächstenliebe unerwarteterweise doch nicht überdurchschnittlich ist.

 

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