Alina hat stets einen kleinen Vorrat. Weil man nie wissen kann, wann die Senftube alle ist, hat sie immer eine zweite auf Lager. Dasselbe gilt für Müllsäcke ebenso wie für Pflanzenerde und Batterien. Alles ist jederzeit doppelt und dreifach vorhanden.

Niklas nimmt seine Frau manchmal hoch wegen ihrer Vorräte. Er nennt sie dann liebevoll „mein kleiner Goldhamster“. Doch eigentlich schätzt er ihre vorausschauende Art. Ohne sie wäre er schon öfters nach erledigtem Geschäft auf dem Klo gesessen, nur um dann feststellen zu müssen, dass kein Toilettenpapier mehr im Haus ist.

Doch manchmal geraten sich Niklas und Alina auch in die Haare wegen ihrer gegensätzlichen Lebensstile. Sie kritisiert dann, dass er nicht mitdenkt und alles an ihr hängen bleibt. Und er wirft ihr vor, unflexibel zu sein und ihre hohen Erwartungen an sich selbst ihren Mitmenschen überzustülpen. Es geht ihnen gleich wie anderen Paaren: Unsere Unterschiedlichkeit ist das, was uns anfangs anzieht. Aber auch das, was uns später total nervt aneinander.

Der österreichische Psychiater Viktor Frankl musste mehrere Jahre in vier verschiedenen Konzentrationslagern verbringen. Er erlebte dort unfassbar viel Leid. Eine seiner aufschlussreichen Beobachtungen aus dieser Zeit dreht sich um die Unterschiedlichkeit von Menschen. Früher ist man davon ausgegangen, dass Menschen ähnlicher werden, wenn sie gestresst sind. Man dachte, sie konzentrieren sich dann auf das Wesentliche und ihre Unterschiedlichkeit verliert an Bedeutung. Frankl aber beobachtete, dass unter dem unvorstellbaren Stress im Konzentrationslager die Menschen nicht ähnlicher wurden. Weder wurden alle zu Egoisten, die für ihr eigenes Leben kämpften, noch wurden alle zu Helfenden. Im Gegenteil: Die Unterschiedlichkeit der Menschen verstärkte sich. Laute wurden lauter, Ordentliche wurden ordentlicher, Emotionale wurden emotionaler.

Diese Beobachtung Frankls gilt auch für unseren alltäglichen Stress. Wenn wir viel zu tun haben, es einschneidende Veränderungen in unserem Leben gibt oder die Welt um uns herum verrücktspielt, kommen unsere Eigenheiten stärker zum Zug. Wir haben keine Kapazität mehr, diese auszugleichen. Deshalb steigt auch unsere Unterschiedlichkeit, wenn wir unter Stress stehen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir häufiger streiten, wenn wir gestresst sind.

Wenn wir uns also wieder einmal tierisch über unsere Partnerin aufregen, dürfen wir kurz innehalten und uns fragen, ob wir gerade gestresst sind und sich unsere Unterschiede deshalb besonders stark zeigen. Oder ob unsere Partnerin gestresst ist und sie sich deshalb entsprechend verhält. Sollte das der Fall sein, ist es gewinnbringender, statt den Eigenheiten des Gegenübers den Stress ins Visier zu nehmen und einander darin zu unterstützen, mit dem Stress umzugehen.

 

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